Pressetext 15.09.2006 von Matthias Wühle*
Besonders unter Schülern, aber auch unter Studenten stößt das Erlernen des Lateins nicht gerade auf Begeisterungsstürme. Spanisch? Französisch? Das ist doch etwas handfestes. Damit kann man seine Freundin beim Kurztrip in Paris beeindrucken oder sich auf Mallorca von den anderen Touristen wirkungsvoll abheben. Aber Latein? Es gibt kein Übersetzungsbüro, daß Lateiner anstellt, auf Kongressen braucht man keine Simultandolmetscher für Latein, man schreibt auch keine Geschäftsbriefe auf Latein und in keiner Stadt der Welt kann man im Restaurant seine Freundin beeindrucken, indem man seine Bestellung auf Latein abgibt. Also doch eine tote Sprache? Eine Sprache, die man allenfalls hinter Klostermauern und stickigen Gelehrtenstuben vermutet – und dort soll sie bitteschön auch bleiben. Und doch muß etwas dran sein an Mystik, die diese Sprache umgibt, an Geheimnissen, die bis in unsere heutige Deutsche Sprache weitergetragen wurden, an uralter Überlieferung, wenn wir in der Mathematik von „Sinus“ und „Tangens“ reden, in der Deutschen Grammatik vom „Imperativ“ und „Komparativ“ oder sogar in der Alltagssprache, wenn wir mit einer Angelegenheit, die auf der „Agenda“ steht, „tabula rasa“ machen wollen, weil sie inzwischen „ad absurdum“ geführt ist, das „corpus delicti“ beseitigen und eine Sache „pro forma“ oder „de facto“ erledigen, die wir „nolens volens“ tun müssen, bevor wir diese dann „ad acta“ legen, wenn wir nicht „a priori“ zur „persona non grata“ erklärt werden wollen, „et cetera, et cetera“. Latein an allen Ecken und Enden. Wir fahren Volvo (Ich rolle) oder Audi (Horch!, Übersetzung des Namens des Gründers August Horch) und die formvollendeten Österreicher begrüßen uns mit „Servus“ (Diener), und stehen uns damit also „zu Diensten“. Im Büro fertigen wir Kopien (Copia: Die Menge) oder senden ein „fac simile“ („Mach das gleiche“, kurz: Fax). Wir begegnen Frauen, die man Vera, Regina, Ursula (Die Wahre/Treue, Die Königin, Das Bärchen) genannt hat. Dann erscheint Latein doch nicht so tot, denn wir sprechen Latein, es ist Teil unserer Kultur und unserer Herkunft. Wer aus Colonia Agrippina (Köln), Moguntia (Mainz) oder Augusta Vindelicum (Augsburg) kommt, stammt aus einem Teil Deutschlands, der einst zum Römischen Reich gehörte, in dem Lateinisch Amtssprache war. Auch wenn die meisten Deutschen germanischer Herkunft sind, so kämpften und arbeiteten einige ihrer Vorfahren für die Römer und sprachen natürlich auch deren Sprache.
Nun gut, könne man sagen: Der letzte römische Helm ist längst in germanischer Erde vermodert, so er denn nicht in einer Museumsvitrine verstaubt, was kümmert uns also die Sprache der Vorfahren? Interessanterweise eine ganze Menge, vor allem mehr, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Latein war das Bindeglied schlechthin, das die reiche Kultur der Antike bis in unsere heutige Gesellschaft herübergetragen hat. Die Wissenschaften und die Kunst, mit der wir heute zu tun haben, läßt sich direkt bis in die Antike zurückverfolgen. Da bedurfte es einer einheitlichen Sprache, weshalb Latein auch als Gelehrten- oder Wissenschaftssprache bezeichnet wird. Es wird daher auch in 1000 Jahren noch Studenten geben, die sich mit konsonantischen Deklinationen und der Bildung von Attributsätzen auf Latein herumschlagen müssen, denn nur dadurch wird der Wissenstransfer auch weiter gelingen. Außerdem könnte Latein als einzige gemeinsame Sprache Europas sogar noch an Bedeutung gewinnen.
Wer eine Sprache erlernen will, und sich dabei nicht auf gebetsähnlich heruntergemurmelte Deklinationsübungen beschränken will, der sollte sich als allererstes von der Mystik und der uralten Tradition dieser Sprache anstecken lassen, denn eine Sprache ist auch Träger und Ausdruck einer bestimmten Kultur, einer Geschichte samt der darin enthaltenen Geheimnisse. Wer weiß, vielleicht kommt man ja dem einen oder anderen Geheimnis noch auf die Spur…